Unsere neue Erde ---- Die 5. Dimension

Lavandula

Ursula Zauns

Die zarte Gestalt ging zögernd einige Schritte weiter, verwirrt blickte sie an den grauen Häusern hoch, von denen ihr eines wie das andere vorkam. Schon wieder eine Straßenkreuzung. Sie sah sich zweifelnd um und gestand sich ein, dass sie sich rettungslos verlaufen hatte. Mehrere Menschen hasteten an ihr vorüber, ohne sie wahrzunehmen. Einmal hatte ein kleiner Hund an ihr geschnüffelt, dem hatte sie zugelächelt. Und in irgendeiner dieser vielen Straßen, die ihr alle gleich erschienen, hatte eine Katze sie ein Stück Weg begleitet. Aber weder der Hund noch die Katze hatten ihr weiterhelfen können.

„Entschuldigen Sie“, sprach sie nun eine alte Frau an, doch die tat, als ob sie gar nicht existieren würde, und schlurfte weiter.

Lavandula seufzte. Als sie sich auf den Weg gemacht hatte, hatte alles so einfach geklungen.

„Geh in die große Stadt“, so wurde ihr gesagt, „dort wird deine Hilfe benötigt. Folge nur immer deiner Nase.“

Nun ja, das hatte sie versucht. Aber die Gerüche hier waren ihr so fremd und kamen ihr so verwirrend vor, dass sie die Düfte, die ihr hätten helfen können, nicht mehr heraus fand. Sie seufzte wieder. Vielleicht gab es ja doch keinen Lavendel in dieser Stadt, dann war ihr Weg umsonst.

Als ein kleiner Junge auf sie zukam, schöpfte sie Hoffnung. „Entschuldige, weißt du, wie ich zu den Lavendelfeldern hier in der Stadt komme?“, fragte sie nun.

„Wer bist du?“, war seine Gegenfrage. Ah, er sah sie wenigstens.

„Ich bin Lavandula, die Lavendel-Deva. Und wie heißt du?“

„Tommy. Hm. Was ist Lavendel?“ Der Kleine steckte seinen Daumen in den Mund und sah sie zweifelnd an.

„Das ist eine Pflanze mit blauen Blüten.“

„Ich weiß nicht, die kenne ich noch nicht. Ich frag mal meine Mutti. – Mama, Mama.“ Eine junge Frau kam auf den kleinen Mann zu.

„Was ist Tommy?“

Der Kleine tapste ihr entgegen und lehnte sich dann gegen seine Mutter. „Was ist Lavendel?“, wollte er nun wissen.

„Wo hast du denn den Namen aufgeschnappt?“

Doch ehe Tommy weiterreden konnte, schüttelte Lavandula heftig den Kopf.

„Gibt’s hier Lavendel?“, fragte Tommy jetzt ganz unschuldig.

„Ja, in der Nähe vom Dom“, die junge Frau blickte lachend ihren Sohn an. „Du stellst Fragen! – Komm, wir müssen weiter, die Oma wartet auf uns.“

Tommy drehte sich verstohlen um und winkte Lavandula zu. Sie winkte zurück und nickte zum Zeichen, dass sie die Antwort gehört hatte. Also in die Nähe des Domes musste sie. Aber wo war der?

Sie hatte inzwischen erkannt, dass sie die Menschen nicht zu fragen brauchte. Entweder waren es kleine Kinder, die sie zwar sahen, aber sich noch nicht auskannten, oder aber ältere Kinder oder Erwachsene, die sicher eine Antwort gewusst hätten, aber die sahen sie nicht. Sie seufzte wieder. So schwer hatte sie sich diese Aufgabe nicht vorgestellt. Wäre sie sich sicher gewesen, dass sie aus der Stadt wieder herausgefunden hätte, dann wäre sie zurückgekehrt zu dem riesigen Lavendelfeld, von dem sie hierher geschickt worden war. Ganz bestimmt hätte ihr die Ober-Deva einen Reisebegleiter mitgegeben.

Aber inzwischen fühlte sie sich so verwirrt, dass sie sich nicht zutraute, überhaupt den Stadtrand zu finden. Müde setzte sie sich auf einen Stein. Eine Taube segelte von einer Laterne herunter und landete vor ihren Füßen.

„Nun“, gurrte sie, „was tust du denn hier?“

„Hallo, Taube, ich suche das Lavendelfeld am Dom.“

„Aha. Hm. Und warum?“ Die Taube stolzierte vor ihr auf und ab, dann wich sie geschickt einem jungen Mann aus, der blindlings über den Weg rannte.

„Man hat mich hierher gesandt. Dieses Lavendelfeld hat keine Deva mehr. Und wie sollen die armen Pflanzen dann gedeihen.“

„Aha. Hm. Eine Verwandte von mir arbeitet auf dem Domvorplatz. Da steht aber kein Lavendel. Vielleicht kann sie dir weiterhelfen. Hm, wenn ich vor dir herfliege, kannst du mir dann folgen?“

„Aber ja doch. Und vielen, vielen Dank.“ Lavandula folgte der Taube, die möglichst niedrig flog und immer wieder auf der Erde Halt machte. Vor allem, wenn viele Leute auf dem Weg entgegenkamen, spazierte sie am Straßenrand entlang, damit Lavandula sie sehen konnte. Einmal wich Lavandula im letzten Moment einem Blumenkübel aus, den sie nicht bemerkt hatte, da sie ihre ganze Konzentration auf die Taube gerichtet hatte.

Endlich ragten vor ihnen die Domtürme auf. „Ah, schau, da kommt meine Verwandte.“ Die beiden Tauben begrüßten sich mit viel Flügelschlagen und Kopfnicken. Dann erklärte die Taube ihrer Verwandten, was Lavandula wünschte.

Die Verwandte nickte kurz. „Ja, ja. Das ist aber auf der anderen Seite des Doms. Das ist nicht mehr mein Revier. Hm, was machen wir da?“

Die beiden Tauben beratschlagten, wie Lavandula am besten dorthin käme, ohne sich wieder zu verlaufen.

„Weißt du genau, wo es ist?“, fragte Lavandula vorsichtig.

„Hm. Aus der Luft kenne ich das Feld sehr gut, es ist kurz vor dem Fluss. Aber ich kann es dir nicht von hier unten beschreiben. Aber auf jeden Fall musst du um den Dom herum.“

„Danke schön. Ich werde es versuchen.“ Lavandula verneigte sich noch einmal vor den beiden Tauben und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch all die Menschen hindurch. Manchmal konnte sie nicht einmal mehr die Domtürme sehen vor lauter Menschenleibern.

Plötzlich spürte sie, dass eines dieser menschlichen Wesen versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie blickte hoch und direkt in die Augen einer jungen Frau. Sie wirkte nicht anders als all die anderen, trotzdem war es anders. Lavandula spürte es.

„Was tut denn eine Elfe hier auf der Domplatte?“, vernahm Lavandula, ohne dass sich die Lippen der Frau bewegten.
„Ich bin keine Elfe, sondern eine Deva, eine Lavendel-Deva“, antwortete sie.

„Ach, dann ist das große Lavendel-Feld an der Treppe dein Revier.“

„Noch nicht. Ich habe noch nicht hingefunden.“

„Dann komm. Folge mir einfach, ich gehe langsam vor und wenn du mich aus den Augen verlierst, dann rufe mich.“ Die junge Frau hatte wieder keinerlei Lippenbewegungen gemacht, aber Lavandula verstand sie.

So bewegten sich die beiden Richtung Treppe, die zum Rhein hinunterführte und mit einem Meer aus Lavendel bedeckt war. Ganz langsam schlenderte die Frau, blieb sogar ab und an stehen und ganz leise lächelte sie vor sich hin.

Als sie an der Treppe angekommen war, setzte sie sich auf die Stufen. Lavandula trat nun vor sie hin, mit leuchtenden Augen.

„Danke, vielen, vielen Dank. Oh, das ist ja ein richtig großes Feld. Und so schön ist es hier, gar nicht so grau wie in der Stadt.“

Die junge Frau lächelte wieder. „Ja, ich sitze oft hier und ich hoffe, ich werde dich bald wieder sehen.“ Dann erhob sie sich, nickte Lavandula kurz zu und kehrte zum Dom zurück.

Lavandula betrachtete ihr neues Betätigungsfeld, sie ging von Pflanze zu Pflanze und begrüßte sie alle. Dann setzte sie sich zwischen die Blüten. Als sie so auf den Strom blickte, fiel ihr ein, dass sie ihre Helferin nicht gefragt hatte, wieso sie Lavandula sehen und hören konnte, ja nicht einmal ihren Namen wusste sie.

„Wenn sie wiederkommt, dann werde ich das nachholen“, nahm sie sich ganz fest vor. Dann legte sie sich auf die Erde, zwischen all die Lavendelbüsche und ruhte sich von ihrer langen Reise aus.[attachment=0]Köln3.jpg[/attachment]